Chronologie des ganz normalen Wahnsinns

Der Indikator für ein gutes, besonderes Fußballspiel ist für viele die Anzahl der Tore, die Art, wie sie fallen oder um was es bei dem Spiel geht. Mein Indikator ist 53 Jahre alt und heißt Wolfgang. Wenn Bayer wichtige Spiele vor der Brust hat, läuft mein Vater zur Höchstform auf. Dann verfällt er in einen Modus, den Sigmund Freud wohl gemeint hat, als er seine Bewusstseins-Theorien über das triebhafte „Es“ entwarf. Hätte der BVB-Fan am Samstagabend gewusst, neben wen er sich da setzt – er wäre wohl zuhause geblieben.

Vor Spielbeginn Mein Vater und ich bewegen uns mit der Krakauer im Brötchenmantel in Richtung unserer Plätze. Noch keine Spur von irgendwelchen schwarz-gelben Irrlichtern auf der Bayer-Tribüne. Wir beobachten das Aufwärmen der Werkself und basteln uns anhand der Beobachtungen die vermeintliche Startelf zusammen. 

Anpfiff Der letzte Bissen der Krakauer rutscht gerade den Rachen runter, da quetschen sich zwei junge Männer an uns vorbei. Der erste im Bayer-Look, der zweite im BVB-Trikot. Mein Vater fixiert ihn mit einem Blick, der ihm sagen soll: Du bist hier nicht willkommen. Wir müssten aufstehen, um sie vorbeizulassen. Mein Vater bleibt sitzen. 

5. Minute Kießling zieht aus aussichtsreicher Position ab, Weidenfeller hält. „Die Dortmunder machen überhaupt nichts“, sagt mein Vater. Eigentlich redet er mit mir, aber irgendwie hält er den Kopf doch eher so, als wolle er es seinem Nachbarn am liebsten mit jedem einzelnen Buchstaben diktieren. 

7. Minute 1:0 Bayer 04. Das Stadion tobt, alle stehen. In der Mitte der BVB-Fan, der beleidigt an seinem Pils nippt. Von meinem Vater gibt’s höhnischen Applaus. Mir gefällt’s, ich mache mit. Endlich mal wieder ein ansehnliches Spiel. 

15. Minute Der BVB hat Probleme, ins Spiel zu finden. Das ist auch dem Anhänger der Schwarz-Gelben nicht verborgen geblieben. Zur Sicherheit klärt ihn mein Vater nochmal über die schwache Vorstellung seines Teams auf: „Sind die schlecht!“

29. Minute 1:1-Ausgleich. Alle sitzen, bis auf einen. „Die haben sowas von Schwein, diese …“, schallt es mir von links entgegen. „So ein blöder Freistoß. War ja klar, dass die nur so ein Tor machen können.“

35. Minute 2:1 Bayer 04. Ekstase. Mein Vater und ich feiern den überragend herausgespielten Treffer der Werkself mit einem langgezogenen „Caaaaaastro“, verbaler Seitenhieb in Richtung BVB-Fan inklusive: „Jetzt haben sie endlich, was sie verdienen.“

39. Minute 2:2-Ausgleich BVB durch Handelfmeter. Wir  sind beide der Meinung, dass Hilbert eine gute linke Vorhand hat. Leider falscher Sport. Der BVB-Fan tanzt, mein Vater nutzt die Gelegenheit, um ihm klarzumachen, dass seine Mannschaft „ein dämlicher Haufen“ ist. 

Halbzeit Mein Vater berichtet mir, dass er seinen Sitznachbarn nicht mag. Er würde die ganze Zeit bei Fehlpässen von Bayer jubeln und jeden Pass über zwei Meter seiner Mannschaft ausgiebig feiern. Außerdem hätte er nicht unbedingt den intelligentesten Eindruck auf ihn gemacht. 

50. Minute Der BVB-Fan kommt verspätet aus der Halbzeit – Bier holen hat länger gedauert. Wir müssten aufstehen, um ihn vorbeizulassen. Mein Vater bleibt sitzen. 

72. Minute Julian Brandt stürmt alleine auf das BVB-Tor zu, scheitert aber an Weidenfeller. Der BVB-Fan hat längst kapituliert und kommentiert die Szenen gar nicht mehr. Mein Vater echauffiert sich an der Chancenverwertung der Werkself, geht dann aber wieder schnell zum BVB-Bashing über. „Die müsste man mal so richtig abschießen.“

80. Minute Mittlerweile findet mein Vater, dass ein Unentschieden gar nicht so ungerecht wäre. Das lässt er seinen linken Sitznachbarn natürlich nicht wissen. „Von mir aus kann es so bleiben“, sagt er mit etwas heiserer Stimme in meine Richtung. 

85. Minute Schluss-Offensive Bayer 04. Wir stehen und beklatschen eine Ecke von Castro. Das letzte Aufbäumen vor dem Abpfiff veranlasst meinen Vater dazu, sich nochmal richtig ins Zeug zu legen. „Verdient hätten sie es auf jeden Fall. Die Dortmunder könnten sich nicht beschweren, wenn die hier mit ner Niederlage abhauen.“ Er sagt das so laut und offensichtlich in Richtung des BVB-Fans, dass ich ihn gegen das Bein trete. „Ist gut jetzt“, sage ich. 

90. Minute Robert Lewandowski wird ausgewechselt. Das Stadion pfeift, weil er sich etwas zu viel Zeit lässt und vorher Spahic gefoult hatte. Mein Vater hat die Finger auch im Mund. 

Abpfiff Wir gehen zum Ausgang. Mein Vater verabschiedet sich mit den Worten: „Da haben die Deppen mal wieder Glück gehabt.“

Beitrag teilen
Share the Post:

Related Posts

Nach oben scrollen