Der Bayer im Februar 2021 – von fliegenden Kastanien und Bier mit Grapefruit-Geschmack

Kerem Demirbay (Bayer 04) und Silas Wamangituka (VfB Stuttgart) im Zweikampf beim Bundesligaspiel in Leverkusen.

Ok, ganz ruhig. Irgendetwas wird Dir schon noch einfallen. Du kannst das Bloggen in den letzten 1 1/2 Jahren ja nicht verlernt haben. Weißt Du was? Im Notfall schreibst Du einfach den Spielbericht runter. Du weißt schon, in etwa so: „Liebe Leser von Pillenliebe, 24 Stunden nach Abpfiff hier die lang ersehnte Analyse zum Sieg gegen den VfB Stuttgart: Geht doch, Jungs!“ Und am Ende schreibst Du  noch ne Art Mutmacher oder sowas in der Art, irgendwie: „Jetzt gegen Mainz, Bern und Augsburg eine Serie starten.“ Zack, fertig ist der neue Blogbeitrag. Du hast den Rest des Sonntags frei und kannst Dir endlich mal die Zähne putzen. Stimmt, so könnte ich es machen – mache ich aber nicht.

Dieser kurze Einblick in meinen Kopf diente mir nicht nur als Einstieg in diesen Blogbeitrag – so ähnlich hat es sich eben tatsächlich abgespielt in meinem geistigen Dachgeschoss. Hier ist es gerade etwas unordentlich und es liegt viel emotionales Zeugs rum. Das hat natürlich vor allem mit unserem Bayer zu tun.

Ihr gebt mir sicher recht: Fußball gucken ist in diesen komischen Zeiten anders – und das Über-Fußball-Schreiben ist es auch. Ich habe mich entschlossen, wieder mit Pillenliebe anzufangen, weil ich dieses Ventil brauche. Ich muss die Emotionen nach dem Spiel und dieses Couch-Erlebnis irgendwie „leveln“. Sonst bin ich ein unangenehmer Zeitgenosse.

Kastanien als Wurfgeschosse im Stadion-Wohnzimmer

Ich erinnere mich noch: Vor dem 1:1 im Hinspiel in Stuttgart haben wir mit meinem Sohn Kastanien gesammelt. Während des Spiels wurden aus den Kastanien lustige Männchen, die wir wie eine Fußballmannschaft aufgestellt haben. Eine jedoch war zu etwas Höherem bestimmt und unternahm eine Reise quer durch unser Wohnzimmer. Unterwegs kollidierte die Kastanie mit einem Glas (eins mit Zwergen drauf, die aussehen als würden sie tauchen, wenn Wasser drin ist) und bewies: IKEA-Kindergläser sollten an Spieltagen von Bayer 04 sicherheitshalber im Schrank bleiben. Ich hätte wirklich nie gedacht, dass Kastanien so gut fliegen!

Auch wenn ich nicht im Stadion stehe und mir die Stimme aus dem Hals brülle, bin ich zu Hause voll dabei. Ich habe gestern mit meiner Frau das Spiel verfolgt. Gegen Essen saß ich mit meinem Vater vor dem Fernseher. Meine Mutter ist auch immer mit von der Partie und übernimmt die Rolle des einen Typen im Block, der während des Spiels pausenlos alles kommentiert. Ein paar Highlights der letzten Wochen: „Jetzt weiß ich, warum ihr euch immer so ärgert!“ „Das kann man sich ja nicht mehr anschauen!“ „Warum sagt der die ganze Zeit steh mir bei?“

Yoga, spazierengehen, meditieren – wohin mit dem Emotionen?

Genau deshalb sitze ich jetzt hier an diesem Sonntagmorgen und schreibe diese Zeilen in mein kleines privates Fußball-Tagebuch. Vielleicht ist es ein bisschen wie eine Schreib-Therapie. Ich werde erstmal den ganzen Ballast los und widme mich dann der Frage: Was kann ich tun, damit es mir besser geht?!

Sicher, ich könnte den Fernseher einfach nicht mehr einschalten. Stattdessen einen schönen Spaziergang im schnee-bepuderten Monheim machen. Oder das Buch „Meditation für Anfänger“ endlich mal anfangen. Oder meinem unausgeglichenen Ich mit einem Yoga Flow von Mady Morrison auf YouTube wieder zu mehr Gelassenheit verhelfen. DRAUF GESCHISSEN!

Wer sagt denn, dass das ständige Fußballgucken zu Hause schön sein muss? Wer sagt, dass diese Corona-Saison ganz anders wird als die letzte? Und wer sagt, dass man Kastanien nicht durchs Wohnzimmer werfen soll? Ok, meine Frau sagt das. Aber ihr wisst vielleicht, was ich meine.

Wo sollen die Emotionen, die wir sonst im Stadion lassen, denn hin? Nach dem Spiel gegen Leipzig hätte ich am liebsten „Spinner“ Nagelsmann in Roger-Schmidt-Manier ein paar nette Worte von der Couch aus zugerufen. Habe ich aber nicht – bis zum ersten Stadionbesuch mit Papa soll mein Sohn ein einigermaßen gutes Bild von mir haben. Nach dem Spiel gegen Essen hätte ich ein paar Bier gebraucht, um runterzukommen. Papa hatte aber nur Erdinger alkoholfrei Grapefruit da (Ja, ich weiß!). Und gestern – wie gerne hätte ich unter einer Bierdusche gestanden und meinen Kumpels ins Gesicht gebrüllt, wie geil das ist und wie geil sie sind und wie geil alles sowieso gerade ist. Leider geil? Leider nein! 

Der Bayer in Coronazeiten – das Geheimnis lautet „Akzeptanz“

Es ist eine typische Bayer 04-Saison bis zu diesem Zeitpunkt – sagen zumindest die Fakten: Letzte Saison standen wir am 20. Spieltag auf Platz 5 mit 34 Punkten. Aktuell ist es Platz 4 mit 35 Punkten. Auch die alljährliche Schwächephase mit einer katastrophalen Chancenverwertung ist nicht neu. Also alles normal? Irgendwie auch wieder nicht. Es fühlt sich gerade besonders schlecht an, weil es 1. in den letzten Wochen oft auch besonders schlecht war und 2. weil die Leistungen vom Bayer zu dem ohnehin schon anstrengenden Alltag zusätzlich noch an den Nerven knabbern.

Vor ein paar Wochen war das anders. Da waren die Spiele (Derbysieger!) Endorphin-Duschen im grauen Corona-Alltag. Bis zum 1:2 gegen die Bayern schwebte ich auf meiner Euphoriewolke und glaubte fest daran, dass diese Saison mehr drin ist. Jetzt sitze ich hier und schreibe eine gedankliche Notiz an mein zukünftiges Ich, dass der Bayer immer der Bayer bleiben wird. Und wisst ihr was? Das ist vollkommen ok so.

Gegen Stuttgart haben Erwartung und Realität mal wieder zusammengepasst

Immerhin haben wir gestern wieder gewonnen – ziemlich überzeugend sogar. Der erste Sieg nach drei Niederlagen in Folge war komplett verdient, auch in der Höhe. Für Demirbay freut es mich, dass ausgerechnet er das Spiel mit seinen zwei Treffern in die richtige Richtung gebracht hat. Er steht, wie ich finde, wie kein anderer für den oftmals großen Unterschied zwischen „Erwartungshaltung“ und „Realität“ beim Bayer. Gestern hat beides zusammen gepasst.

Auf was ich überhaupt keine Lust habe, ist eine Trainerdiskussion. Ich mag Peter Bosz, als Typen und als Fußballtrainer. Diese Leistungsschwankungen hat noch kein Trainer in den Griff bekommen. Ihn dafür allein verantwortlich zu machen, wäre nicht fair. Sicher spielen da auch die Verletzten eine Rolle und ganz sicher auch die Müdigkeit nach den vielen Spielen in den letzten Wochen und Monaten. Am Ende ist es beim Bayer, wie bei jedem von uns aktuell: Es gibt Tage, da läuft es – und es gibt Tage, da fliegen die Kastanien.

Vielleicht seid ihr besser darin, auch diese negativen Emotionen zu akzeptieren. Ich werde es natürlich weiterhin versuchen. Mir aber auch zugestehen, dass im Stadion-Wohnzimmer eben doch alles ein bisschen anders ist – und der Wohnzimmer-Fan auch mal etwas anders sein darf. Ich bestell vorsichtshalber schon mal ein Viererpack Kindergläser.

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